Vom Nutzen der Grenze (2016)
Ilse Aichinger veröffentlichte 1953 ihre Erzählung "Der Gefesselte". Jemand erwacht in der Sonne und entdeckt, dass er gefesselt ist. Eine dünne Schnur schlingt sich um Knöcheln, die Beine hinauf , über die Hüften, den Brustkorb und seine Arme. Lange glaubt er, dass die Fesselung fehlerlos ist, bis er schließlich kleine Zwischenräume entdeckt. Allmählich lernt er innerhalb der engen Grenzen, seine Bewegungen zu verfeinern und vorher ungeahnte Geschicklichkeit zu entwickeln. Schließlich landet er beim Zirkus. "Sein Ruhm wuchs von Ort zu Ort, aber seine Bewegungen blieben immer die gleichen, wenige und im Grunde gewöhnliche Bewegungen, die er untertags in dem halbdunklem Zelt immer wieder und wieder üben musste, um die Leichtigkeit in der Fessel zu behalten. Indem er ganz in ihr blieb, wurde er auch ihrer ledig, und weil sie ihn nicht einschloss, beflügelte sie ihn und gab seinen Sprüngen Richtung."
Die Spezies Mensch ist aus Sicht einer Leistungsethik von vornherein schlecht ausgestattet. Hilflos kommen wir zur Welt, müssen beschützt, genährt, bekleidet und erzogen werden. Die Bedürftigkeit begleitet unseren Weg. Die Krone der Schöpfung? Die fließende Anmut des gefährlich schleichenden Panthers werden wir nie erreichen, nicht den faszinierenden Orientierungssinn der Zugvögel, nicht die kollektive Intelligenz des vollkommen funktionierenden Ameisenstaates. Warum sollte dieser Spezies mehr beschieden sein, als eine kurze Episode im unendlichen Ablauf der Zeiten, ihre unbegrenzten Möglichkeiten nur eine trügerische Illusion?
Aber. Von Anbeginn ist in uns zugrunde gelegt Werkzeuge zu suchen, zu finden, zu erfinden. Unsere Grenzen erweiternd, hilfreich, sie zu überwinden. Das Mangelwesen "Mensch" ist - wie Sigmund Freud im "Unbehagen an der Kultur" vermerkt - ein "Prothesengott" geworden, "recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich zu schaffen". Nicht ahnte Freud, wie nahe er bereits jener Generation war, welche - nicht unähnlich den Cyborgs sogenannter utopischer Filme - längst mit ihren Prothesen verschmolzen sind. Zu schaffen macht ihnen nicht das Anlegen der Hilfsorgane sondern deren Ausfall, der schmerzlich erlitten wird - gleich so, als ob ein leibliches Organ abhanden gekommen wäre. Manche von uns werden bestätigen können, dass eine Unterbrechung der Internetverbindung am Smartphone erlebt werden kann, als hätte es uns die Ohren verschlagen oder das Augenlicht getrübt.
Der Hilfsmittel gibt es viele - der Mensch ist das Werkzeug erfindende Tier - mit Beispielen will ich nicht langweilen, wir alle kennen zahllose. Nur nebenbei sei darauf verwiesen, dass auch Theorien, unsere "Weltbilder" als Werkzeuge gedacht werden können. Technische, soziale, organisatorische Hilfsmittel erweitern unsere Möglichkeiten; wir überwinden unsere "natürlichen" Begrenzungen. Besser, schneller, höher, weiter. Rekorde, Leistungssteigerung, Selbstoptimierung: Leben im Zeitalter der Dominanz des Quantitativen. Wie singt doch H. Qualtinger so entlarvend lustig: "Weil i fahr jetzt jeder Limousin´ vor, schließlich liebt der Mensch von heut den Spurt, zwar hab i ka Ahnung wo ich hin fahr, aber dafür bin i schneller durt!"
Man könnte meinen, der Sport - vor allem der Leistungssport - sei zu unserer Leitkultur geworden. Wir bewegen uns nicht - wir trainieren! Wir machen uns fit - ein verräterisches Adjektiv, ist doch zu fragen, in was wir uns hier einpassen sollen. Überlastungsverletzungen gehören längst zum Alltag der Leistungssportler, die Grenzen des Erreichbaren werden immer weiter hinausgetrieben. Ob die ganz spezielle Diät, oder das ganz sicher nur wegen der Diabetes genommene Medikament schon auf der Liste der verbotenen Substanzen steht, ist immer nur eine Frage der Zeit. Doping gehört in weiten Bereichen des Sports zur Normalität - und da spreche ich nicht nur vom Sport der professionellen Hochleister.
Ganz wunderbar hat Robert Musil, der Meister aller Ironiker, im "Mann ohne Eigenschaften" prophetisch den Geist unserer Zeit portraitiert. Er schreibt darüber, wie Ulrich in einer Zeitung das Wort vom "genialen Rennpferd" liest und führt einige Zeilen später aus: "Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch analysieren, so würden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ihnen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein, ja sie würden sich in den Tugenden und Fähigkeiten, die ihren besonderen Erfolg ausmachen, voraussichtlich auch von einem berühmten Hürdenpferd nicht unterscheiden, denn man darf nicht unterschätzen, wie viele bedeutende Eigenschaften ins Spiel gesetzt werden, wenn man über eine Hecke springt. Nun haben aber noch dazu ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist voraus, dass sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen lässt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der beste erkannt wird, und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Größe zu verdrängen". Besser kann man es nicht sagen.
Diese Wertschätzung und Überbetonung des Quantitativen hat usurpatorisch nahezu alle Lebensbereiche erfasst. R. Musil hätte sich nicht träumen lassen, in welchem Ausmaß das heute sogar für den Wissenschaftsbetrieb Geltung hat. Die Höhe der gesammelten Impact-Faktoren - einer Maßzahl, welche im Prinzip eine quantitative Aussage darüber trifft, wie oft veröffentlichte Arbeiten in anderen wissenschaftlichen Zeitschriften zitiert werden entscheidet noch immer - vor allem im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich - über akademische Karrieren. Dabei bewertet diese Maßzahl keineswegs die Qualität der Arbeiten. Obwohl jeder weiß, dass die Häufigkeit des Zitiert-Werdens wenig bis gar keine qualitative Aussagekraft hat verbleibt man beim Zählen. Da gibt es wahre "Impact-Kaiser", welche durch geschickte, zeitgeistige Themenwahl und entsprechendes Lobbying, es in die "richtigen" Zeitschriften schaffen und Karriere machen. Beliebt ist auch das "Sich-gegenseitig-im-Kreis-Zitieren" oder am einfachsten das "Selbstzitat", was dem erzielten Faktor zu schnellem Wachstum verhelfen kann. Musil hätte an diesem Beispiel seine Freude gehabt. Es lässt sich eben die Leistung des Rennpferdes leichter messen als jene des großen Geistes.
In der Wirtschaft werden Wachstum und Größe vergöttert. Unternehmen fusionieren um noch größer, mächtiger, marktbeherrschender zu werden. Marx hat das die Akkumulation des Kapitals genannt. Man weiß, dass die wenigsten Zusammenlegungen - auch gemessen an den Kriterien der jeweiligen Akteure - wirtschaftlich erfolgreich sind. Synergien sollen gehoben werden, Mitarbeiter eingespart, der Gewinn und die Effektivität gesteigert und der Aktienkurs erhöht werden. So die Zielvorstellungen. Tatsächlich ist das einzig zuverlässig Eintretende die große Kündigungswelle. Trotzdem wird weiter drauflos fusioniert. Warum? Es gibt immer eine Grenze der Unternehmensgröße, die besser nicht überschritten wird, wenn die Profitabilität gesteigert oder auch nur beibehalten werden soll. Jede Organisation hat - so wie jeder lebende Organismus - eine natürlich gegebene Größenbegrenzung. Wird diese überschritten, so verringert sich die Leistungsfähigkeit.
Zur Erläuterung ein weiteres Beispiel. Dieses Mal aus dem Bereich der Biologie, zu dessen Verständnis man nur ein wenig "Niedere Mathematik" benötigen. Nehmen wir an, ein Storch könnte, durch eine Laune der Natur, unter Beibehaltung aller Proportionen zur doppelten Länge - also um den Faktor 2 - weiterwachsen. Bekanntlich wächst das Volumen ähnlicher Körper mit der dritten Potenz der Längenänderung und damit auch sein Gewicht - so ferne das spezifische Gewicht sich nicht geändert hat. Er ist also (2x2x2=8) 8 mal schwerer geworden. Die Fläche des Querschnitt seiner dünnen Beinchen hat auch zugenommen. Allerdings nur - da sich die Fläche im Quadrat der Längenänderung verändert - (2x2=4) um das 4-fache! Das auf 1cm² des Knochenmateriales lastende Gewicht hat sich also verdoppelt! Der Knochen wird diese Last nicht tragen können. Der Storch bräuchte daher vergleichsweise dicke Elefantenfüße, um die nun so überproportional angewachsene Last tragen zu können - und vorbei wäre es mit seinem zart-eleganten Erscheinungsbild. Jede Form hat eine naturgegebene Begrenzung des Größenwachstums. Wird die Grenze überschritten, kommt es zur Deformation - die Bäume wachsen eben nicht in den Himmel. Die Form muss an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. In der Natur passiert das laufend. So viel zu den biologischen Aspekten der Grenze.
In den 1950iger Jahre entwickelte Heinz Zemanek an der TU Wien Europas ersten Computer auf Transistorbasis - liebevoll Mailüfterl genannt. Das war eine entscheidender Schritt in Richtung Miniaturisierung. Diese Anlage war bedeutend stromsparender als alles , was es vorher bei den auf Elektronen-Röhren basierenden Computern gab. Verglichen mit einem heutigen Gerät in Notebook-Größe hätten damalige Maschinen die Fläche von Groß-London bedeckt und den Stromverbrauch des gesamten U-Bahnnetzes gehabt. 60 Jahre später hat jedes Smartphone ein Vielfaches der Rechenleistung Mailüfterls - und das ist erst der Anfang. Computer haben alle Lebensbereiche durchdrungen. Die Träume von künstlicher Intelligenz scheinen unmittelbar davor zu stehen, Realität zu werden. So wie mental gesteuerte, technisch ausgereifte Prothesen bereits jetzt nicht nur Gliedmaßen ersetzen sondern auch die vorhandene Muskelkraft verstärken können, scheint - begünstigt durch die rasanten Fortschritte bei der Miniaturisierung - die physische und psychische Verschmelzung von Mensch und Maschine nicht mehr weit entfernt zu sein, gelebte Realität zu werden. Die Suchmaschinen von Google ersetzen und ergänzen zunehmend unser Gedächtnis. Wissen on demand ist jederzeit aus der cloud abrufbar. Die Nutzung dieser Erweiterungen unseres Selbst ist den meisten selbstverständlich, unseren Kindern unverzichtbar geworden. Die Grenzen dessen, was wir wissen können, sind weit hinaus geschoben, unser Gehirn ist via Internet mit anderen Gehirnen längst schon vernetzt, der Weltgeist ein Computernetzwerk.
Computer haben fast alle Lebensbereiche in einem in atemloser Rasanz voran getriebenen Siegeszug erobert. Wir nehmen das - weitgehend unwidersprochen - als unvermeidbare Entwicklung hin, genießen die offensichtlichen Annehmlichkeiten und nehmen die Unzulänglichkeiten resignierend zur Kenntnis: "Der Computer hat sich schon wieder aufgehängt". Der Experte kommt, probiert ein wenig herum, schaut klug und zieht dann einfach den Stecker aus der Dose. Man schaut verblüfft, das Notebook fährt wieder hoch und alles funktioniert wieder. Zauberei! Der Experte kostet € 180 in der Stunde. Was hat der Computer gehabt? Man glaube mir, der Experte weiß es auch nicht! In der Folge ein Erklärungsversuch.
"Computer sind Maschinen, in denen jeder Prozess realisiert werden kann, der als Algorithmus beschreibbar ist. Also durch eine Anzahl von Regeln, welche dem Spieler vorschreiben, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten muss" (Josef Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, 1976). Es lasst sich daher jedes Phänomen, von dem wir annehmen, seine Verhaltensregeln zu kennen, durch ein Programm darstellen. Fehler treten auf, wenn das zu Beschreibende nicht vollständig verstanden worden ist. Ein Beispiel zur Erläuterung. Das Verhalten eines lebenden Organismus in einer konkreten Situation wird dann vorhersagbar sein, wenn wir dessen Ganzheit erfasst haben. Das wird beim Einzeller- vielleicht sogar beim Pantoffeltierchen - gelingen und daher durch Algorithmen beschreibbar sein. Bei einer Katze werden wir aber wahrscheinlich teilweise scheitern. Je komplexer ein System, desto unsicherer die Prognose. Das ewige Leiden an der Wochenend-Wetterprognose macht es deutlich. Man behilft sich bei der Beschreibung komplexer Systeme, indem man sie reduziert. Realität wird so manipuliert, dass sie in einer Sprache eindeutig formuliert werden kann. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nur solche Prozesse darstellbar sind, die nach bekannten Spielregeln ablaufen. Alles andere wird ignoriert, das Abbild der Wirklichkeit ist ein Unvollständiges. Gerade hier liegen die Grenzen des sinnvollen Computer-Einsatzes. Diese werden aber immer wieder ignoriert. Man denke etwa an das klägliche Scheitern computergestützter Vorhersagen betreffend zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklungen. Warum wird weiterhin daran festgehalten, Systeme aus der Sphäre des Lebendigen in Algorithmen beschreiben zu wollen, Systeme die nie vollständig beschreibbar sein können?
Viele sind davon überzeugt, Computerprogramme hätten durchgehend logisch zusammenhängend konstruierte Strukturen, deren Verhalten vollständig vorhersagbar, und deshalb kontrollierbar seien. Die Realität der EDV-Praxis ist davon meilenweit entfernt. Die Erstellung großer Programme erfolgt nicht nach einem von allem Anfang an genau festgelegten Rahmenplan sondern in einer Kette von Unterprogrammen, welche von verschiedenen Programmierer-Teams formuliert werden. Kritische Geister unter den Informatikern meinen, dass die meisten Programme nicht ausreichend theoretisch fundiert sind. Bei Auftreten von Fehlern kann daher nur durch Einführen von ad hoc-Mechanismen korrigierend eingegriffen werden. Die Vorstellung, dass dabei zielstrebig vorgegangen wird ist jedoch irrig. Der Programmierer versteht nicht das Programm sondern versucht durch Probieren das erwünschte Verhalten zu erreichen, wobei im allgemeinen das Subprogramm gar nicht aufgeschrieben wird, weil Befriedigung nur in der schnellen Interaktion mit der Maschine gefunden wird, zu der er häufig eine starke emotionale Bindung entwickelt. So entstehen Agglomerationen von Unterprogrammen, die unter jenen Umständen, die beim Probelauf geprüft werden funktionieren. Da jedoch keine durchgehende Theorie existiert aus der diese abgeleitet werden, kann ihr Verhalten nur für jene Fälle vorhergesagt werden, welche durchgespielt worden sind. Was aber beim Zusammenspiel der Subprogramme im Gesamtablauf passiert, ist in noch höherem Ausmaß nicht vorhersagbar. Diese Systeme entziehen sich somit, je umfangreicher sie werden, umso mehr dem Verständnis; eine Einsicht in ihre Regeln ist nicht möglich. Wichtig vor allem aber ist, dass auch der korrigierende Eingriff in das Programm unmöglich wird, da angesichts des Verständnisdefizits jede wesentliche Modifikation zur nicht mehr rückgängig machbaren Lahmlegung des gesamten Programmes führen kann. Aus diesem fatalen Grund werden weiter neue ad hoc-Strategien angewendet, neue Subsysteme eingeführt und so weiter und so fort. Tagtäglich löste das Raketen-Abwehrsystem der USA - natürlich auch in der Zeit des Kalten Krieges - Fehlalarme aus. Das hing nicht damit zusammen, dass die Computer fehlerhaft arbeiteten sondern damit, dass die Programme zu komplex sind um in sich durchgehend konsistent strukturiert sein zu können. Die Militärs wussten und wissen das. Der anderen Seite wird es nicht anders ergangen sein. So drückte niemand den roten Knopf und unser Planet ist nicht im atomaren Inferno versunken. Offensichtlich konnte man nicht umhin, die Grenzen der Programmierbarkeit zu akzeptieren. Zwar wird inzwischen das beschriebene Problem durch den Einsatz von Programmier-Programmen angegangen, doch aus prinzipiellen Gründen kann dadurch nur eine gewisse quantitative Verschiebung erreicht werden. Das gleiche gilt für die Anwendung der Fuzzy-Logik - dem Arbeiten mit Unschärfen - um die Komplexität von Systemen zu reduzieren.
Jeder routinierte Autofahrer weiß, wie sehr die komplex verwobenen Vorgänge in Fleisch und Blut übergegangen sind. Alles läuft, wie von selbst, ohne bewusste Steuerung ab, wir sind mit der Bewegungsmaschine - und diese wieder mit der sich laufend verändernden Umwelt - scheinbar verschmolzen. Diese Verinnerlichung der Maschinen-Gesetze widerfährt dem Computerbenützer in noch viel tiefer gehender Weise. In dieser Interaktion wird alles, was ungeeignet zur Kommunikation mit der Maschine ist gleichsam ausgeschaltet, sie lenkt subtil unser Denken auf unbemerkte Weise. Im Computer manifestieren sich bestimmte Aspekte unseres Denkens. Im gleichen Ausmaß, in dem wir eine symbiotische Beziehung mit dem Computer eingehen, werden in einer Rückkoppelungsschleife genau diese Aspekte in unserem Denken verstärkt und gewinnen zunehmend an Dominanz. Das ganzheitliche, synthetisierende, scheinbar intuitive Erfassen komplexer Zusammenhänge wird vernachlässigt - vielleicht auch verlernt - zugunsten hektisch getakteter ad hoc Reaktionen; getrieben vom Tempo, an welches uns die Schnelligkeit der Maschine gewöhnt hat. Nicht nur auf der individuellen sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene lässt sich dies beobachten. Die Vorherrschaft des quantitativen Denkens hat alle Lebensbereiche durchdrungen. Zugleich verbreitet sich das ohnmächtige Gefühl nichts mehr steuern zu können, das Schiff laufe aus dem Ruder, überall Krisen und hinter dem Horizont drohende Katastrophen aller Art.
Warum ist das so? Ich meine, man sollte sich wieder an die Mahnungen des Club of Rome aus den 1970iger-Jahren erinnern. Ich habe ein paar Beispiele gebracht, die zeigen sollen, dass jedes System Grenzen seines Wachstums hat. Wird seine Struktur nicht an die quantitative Vergrößerung angepasst, kann es zu unerwarteten, plötzlich einsetzenden Fehlleistungen kommen. Wir nennen das Krisen. Es ist nicht zu übersehen, dass die im Vergleich zu früheren Epochen rasende Geschwindigkeit und das Ausmaß der Veränderungen in unserer Zivilisation die Anpassungskräfte überfordern.
An den Beginn dieser Überlegungen habe ich Ilse Aichingers Erzählung vom Gefesselten gestellt um daran zu erinnern, dass es auch Wachstum innerhalb der Grenzen geben kann. Optimistisch macht es mich, dass Tendenzen sichtbar werden, dieses Thema stärker ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.